30.05.2014

Sehr geehrte Adresse!

Kürzlich wurde ich gefragt, ob die Verwendung der obigen Anredeform in schriftlichen Deutsch-Abiturarbeiten akzeptabel sei. Meine Antwort lautete: Nein, das wirke ziemlich befremdlich. Verwundert hat mich die Frage allerdings nicht, denn
diese Form - Tisztelt Cím! (eigentlich Címzett) - ist hier in Ungarn (noch?) absolut gebräuchlich.
Bei den Anredeformen gibt es im Ungarischen einige Auffälligkeiten. Im formellen Umgang wird dem Rang einer Person vielleicht noch mehr Ehrerbietung entgegengebracht als im Deutschen. Ein  Beispiel dafür ist der Lehrerberuf. Obwohl dieser in Ungarn nun schon seit Längerem ein sehr geringes Prestige hat, zollt man der Berufsgruppe zumindest noch in der Anrede - "Sehr geehrter Herr Lehrer!", Guten Tag, Herr Lehrer!" - Respekt. Mit der (formellen) Anrede von Frauen haben die Ungarn aber so ihre liebe Not. Darüber möchte ich in einem gesonderten Blogeintrag schreiben.
Im Zusammenhang mit den hiesigen Anredeformen erinnere ich mich an einige verblüffende Erlebnisse wie beispielsweise die Anmeldung unseres Sohnes im Kindergarten. "Anyuka!" (Muttilein) sagte die Kindergärtnerin in meine Richtung gewandt. Ich blickte nach hinten, doch da stand niemand. Sie hatte in der Tat mich gemeint! Später stolperte ich noch ein wenig über "Süßmutter", "Süßvater" oder "Süßfleischi", bis ich die amüsanten Bücher "Also nein - diese Ungarn!" von Sándor Novobáczky und Siegfried Brachfeld  und "Mitten am Rande - ein bisschen Ungarn" (Brachfeld) in die Hände bekam und damit einen erhellenden Einblick in die ungarische Seele. Heute finde ich die sonderbaren, skurrilen Anredeformen einfach nur nett und weiß: Die Ungarn sind Schmeichel(welt?)meister, die verbalen Streicheleinheiten machen das Leben angenehmer, die Atmosphäre vertrauter, familiärer.
Man schmiert dem anderen gern Honig ums Maul, lobt ihn über den grünen Klee für das blendende Aussehen, die tolle Frisur, das neue Kleidungsstück. "Kannst du mir bitte helfen, meine Goldige?", "Guten Morgen, meine Schönheit!", "Oh verzeih, meine Teure!" - das ist Alltag im Kollegenkreis. Ein Gang über den Markt kann sehr erheiternd sein, denn besonders Marktfrauen sind überaus kreativ und routiniert im Bezirzen ihrer Kunden.
Die Palette der Kosenamen mit all den Verkleinerungsformen ist riesig. Im Vergleich dazu ist das Deutsche geradezu ärmlich. Dass aus einem István Pistike wird, kann man sich gerade noch mal so herleiten, dass Bözsi etwas mit dem Namen Erzsébet (Elisabeth) zu tun haben könnte, war mir aber lange Zeit nicht klar.
Die ungarischen Koseformen müssen auch schon österreichische Operetten-Librettisten schwer beeindruckt haben. So heißt es in einem Operettenlied:  Ich möchte träumen von dir, mein Puzikam. (ungarische Fassung: Te légy az álmom ma éjjel, mucikám) Trollig, nicht wahr!





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